Den Kinderschuhen entwachsen

Eine Replik auf Präsident Macron und Bundeskanzler Scholz

Gastbeitrag von Francois-Xavier Bellamy und Sven Simon

In einem F.A.Z.-Gastbeitrag anlässlich des 60. Jahrestages des Elysée-Vertrags haben Bundeskanzler Olaf Scholz und Präsident Emmanuel Macron sieben strategische Ziele zur Zukunft der europäischen Integration formuliert. Wir teilen die Erkenntnis, dass die Europäische Union unverzichtbar ist, um unsere Interessen in der Welt zu wahren und die Souveränität unserer Demokratien zurückzuerlangen. Die vorgelegten Absichtserklärungen werden allerdings nicht ausreichen, um diesem Anspruch gerecht zu werden.

Wir sind der Überzeugung, dass uns nur eine grundlegende Weiterentwicklung der Europäische Union dazu befähigen wird, die Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen. Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, eines industriepolitischen Epochenwandels in den Vereinigten Staaten und in China sowie der transnationalen Aufgabe des Klimaschutzes muss die EU sich endlich gemeinsamer Ziele bewusstwerden. Auf dieser Grundlage müssen wir die Funktionsweise der europäischen Institutionen reformieren, um handlungsfähig zu werden.

Schon im Elysée-Vertrag wurden erste Leitlinien für gemeinsame Rüstungsprojekte und den Aufbau deutsch-französischer Einheiten festgeschrieben. Aber auch nach 60 Jahren ist eine Zusammenarbeit in der europäischen Verteidigungsindustrie – mit Ausnahme einiger Flaggschiffe wie Airbus – immer noch die Ausnahme und nicht die Regel. Der derzeitige Vertragsrahmen räumt der EU in der Verteidigungspolitik nur begrenzte Befugnisse ein. In der Praxis führt die intergouvernementale Rüstungszusammenarbeit zu Entscheidungen, die allzu oft Standortpolitik über die Bedürfnisse der Truppe stellen.

Die gegenwärtige Chance zu gemeinsamen Investitionen in Streitkräfte und Rüstungsindustrie bleibt von Berlin ungenutzt. Erhebliche Summen aus dem Sondervermögen der Bundeswehr werden in marktverfügbare amerikanische Waffen fließen, statt in europäische Projekte, welche die Verteidigungsfähigkeit der Europäer sicherstellten. Unsere industriellen Rüstungskapazitäten sind unzureichend. Neben der fehlenden langfristigen Planungssicherheit für europäische Hersteller bleiben die strukturellen Unterschiede in der Verteidigungsindustrie ungelöst; und es besteht die Gefahr, dass europäische Verteidigungsinvestitionsprojekte wie EDIRPA nur zu einer Stärkung der amerikanischen Industrie führen werden.

Um einen gemeinsamen europäischen Pfeiler der Verteidigung – innerhalb und ergänzend zur NATO – zu verwirklichen, bedarf es einer Änderung des Vertrags von Lissabon mit dem Ziel, die Finanzierung gemeinsamer Beschaffungsprojekte ebenso zu ermöglichen, wie die Stärkung der strategischen Kohärenz. Russlands Krieg gegen die Ukraine mahnt uns, die Verteidigungsfähigkeit Europas nicht länger von den Ergebnissen amerikanischer Präsidentschaftswahlen abhängig zu machen. Schon vor Jahren forderte der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die Europäische Union müsse weltpolitikfähig werden. Darunter verstand er die Überwindung einer Kultur des kleinsten gemeinsamen Nenners in der Außen- und Sicherheitspolitik, die durch nationale Vetos die Handlungsfähigkeit der EU insgesamt lähmt. Dieses Problem besteht auch in Politikbereichen, in denen formal die Einstimmigkeit abgeschafft wurde. So ist es wenig glaubwürdig, dass Macron und Scholz einerseits eine ehrgeizige Agenda in der europäischen Handelspolitik einfordern, ein ambitioniertes Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten aber in der Praxis von Macron blockiert wird.

Zur Weltpolitikfähigkeit gehört auch die Vermeidung von strategischen Abhängigkeiten in der Energiepolitik. Es ist unverständlich, dass Bundeskanzler Scholz und Präsident Macron dafür plädieren „nationale Entscheidungen beim Energiemix“ zu akzeptieren. Nationale Entscheidungen haben Deutschland mit dem Bau der Nord Stream-Pipelines und dem Ausstieg aus der Kernenergie in eine Sackgasse geführt. Statt Koexistenz in der Energieversorgung brauchen wir den Aufbau einer effizienteren Energieunion und gemeinsame Investitionen in die erneuerbare Energieerzeugung – insbesondere bei der Wasserstoffproduktion.

Die Beispiele der Verteidigungs- und Energiepolitik zeigen, dass es notwendig ist, die derzeitige Kompetenzverteilung in der EU zu überprüfen und klare Verantwortlichkeiten zu schaffen. Das geopolitische Umfeld Europas hat sich seit der Verabschiedung des Vertrags von Lissabon im Jahr 2007 grundlegend verändert. Unsere Strukturen und die damit verbundenen demokratischen Rückbindemechanismen haben sich bisher nicht im gleichen Maße entwickelt. Die derzeitige Kompetenzstruktur der EU ist kompliziert. Verantwortlichkeiten innerhalb der europäischen Institutionen wie auch zwischen Brüssel und nationalen Hauptstädten sind von außen kaum nachvollziehbar. Europa muss dort stark sein, wo es einen erkennbaren Mehrwert gemeinsamen Handelns gibt: mehr Wohlstand durch einen gemeinsamen digitalen Binnenmarkt, mehr Sicherheit durch den Aufbau europäischer Verteidigungsfähigkeiten und den Schutz der Außengrenzen, einen wirksamen Kampf gegen den Klimawandel und gemeinsame Investitionen in Wettbewerbsfähigkeit, Energie und Innovation.

In vielen dieser Bereiche konzentrieren sich die europäischen Institutionen zu sehr auf Regulierung und zu wenig auf Strategie. Eine Fokussierung auf europäische Mehrwertthemen heißt allerdings auch, dass die EU sich an das Prinzip der Subsidiarität erinnern und stärker als bisher auf das Wesentliche konzentrieren muss. Anstatt bei neuen Krisen immer weitere schlecht demokratisch legitimierte zwischenstaatliche Strukturen zu schaffen, müssen die bestehenden europäischen Institutionen handlungsfähiger werden. Das bedeutet: Die Überwindung alter Strukturen, die derzeit verhindern, dass wir in Europa zeitnah auf Krisen reagieren können. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren muss gestrafft und beschleunigt werden. Eine handlungsfähige Kommission sollte nicht mehr aus Kommissaren bestehen, die von den nationalen Regierungen entsendet werden. Sie muss zu einer durchsetzungsstarken Exekutive umgebaut werden, die dem Europäischen Parlament gegenüber verantwortlich und durch parlamentarische Mehrheiten legitimiert ist.

Von Berlin und Paris erwarten wir nicht nur rhetorische Bekenntnisse, sondern substantielle Vorschläge für einen neuen Integrationsschritt und die dafür notwendigen Vertragsänderungen. Im Bewusstsein einer europäischen Schicksalsgemeinschaft müssen wir einen besseren Weg gehen.