Zuerst erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Die Konfliktlösung in der Auseinandersetzung um das Anleihekaufprogramm „PSPP“ der Europäischen Zentralbank (EZB) nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. Mai bedurfte einer gewissen Anstrengung. Sie wäre ohne die couragierte Anwendung des „Grundsatzes der aufrichtigen Zusammenarbeit“ seitens der EZB nicht möglich gewesen. Der hybride Lösungsweg im europäischen Mehrebenensystem kann aber beispielgebend sein.
In ihrem Antwortschreiben an das Europäischen Parlament auf Anfrage des Autors dieses Beitrags hat die EZB ihre in drei Dimensionen gegliederte Abwägung, die sie vor der Einführung geldpolitischer Maßnahmen vornimmt, sehr präzise dargelegt. Neben der Bewertung, ob die geldpolitischen Maßnahmen zur Erreichung des Preisstabilitätsziels wirksam sind, analysiert sie, ob das mit dem geldpolitischen Instrument verfolgte Ziel nicht auch „mit anderen Mitteln erreicht werden kann, die möglicherweise weniger unbeabsichtigte Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft haben.“ Auch auf die Frage, wie dies zu Beginn eines geldpolitischen Instruments überhaupt möglich ist, gibt die EZB eine Antwort. Sie stützt sich auf „Szenarioanalysen“ und untersucht, „wie sich die Wirtschaft unter einer Reihe alternativer geldpolitischer Konfigurationen entwickelt hätte“. Schließlich bemisst sie, „ob die Vorteile einer Neukalibrierung eines bestimmten Instruments unter den gegebenen Bedingungen durch potenzielle nachteilige Nebenwirkungen aufgewogen werden können“. „Wenn diese Analyse darauf hinweist, dass die Neukalibrierung eines bestimmten Instruments zu übermäßigen Nebenwirkungen führen kann, wird sich“, so die EZB, „die politische Haltung stärker auf andere Instrumente stützen“. Diese Ausführungen liefern den Beleg dafür, dass die vom BVerfG im Urteil des EuGH vermisste Verhältnismäßigkeitsprüfung von der EZB als möglich angesehen wird. Widerlegt wurden somit diejenigen, die behaupten, zwischen Geld- und Wirtschaftspolitik könne nicht unterschieden werden.
In komprimierter Form beschreibt die EZB in ihrem Antwortbrief jenen Sachverhalt, den sie mit den an die Bundesbank gesendeten Dokumenten zu belegen versucht, die wiederum an die Bundesregierung und den Bundestag weitergereicht wurden, um es ihnen zu ermöglichen, ihrer aus der Karlsruher Rechtsprechung resultierenden Integrationsverantwortung nachzukommen, die nun gegebenenfalls erneut überprüft werden muss. Wichtig ist dabei zu unterscheiden, dass die EZB keine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu partikularen Auswirkungen auf bestimmte Wirtschaftsbereiche in einzelnen Mitgliedstaaten vornimmt. Das dürfte sie auch gar nicht, weil es um die Preisstabilität im Euroraum insgesamt geht. Die wirtschaftspolitischen Nebenwirkungen werden also nur global für den Gesamteuroraum betrachtet, zumal die Nebenwirkungen subjektiv höchst unterschiedlich sind. Beispielsweise hat die Niedrigzinspolitik negative Auswirkungen für Menschen, die in Ballungszentren Eigentum erwerben wollen, sie ist aber für die Eigentümer höchst lukrativ.
Präsidentin Christine Lagarde betont in ihrem Schreiben den Dialog zwischen der Notenbank und dem Europäischen Parlament als „wesentliches Element der Rechenschaftspflicht der EZB“. Der Austausch findet quartalsweise statt und ist zur demokratischen Legitimation der aufgrund ihrer spezifischen Aufgaben im Bereich der Währungspolitik unabhängigen Notenbank unions- und verfassungsrechtlich unabdingbar. Die Zentral¬bank muss sich erklären und ihre Agenda immer wieder neu legi¬ti¬mie¬ren. Der Dialog könnte durch eine bessere Vorbereitung und die sinnvollere Zuteilung flexibler Redezeiten der Abgeordneten verbessert werden, wie die Arbeit der Ausschüsse des Europäischen Parlaments insgesamt verbesserungsbedürftig ist. Die jährliche Entschließung des Europäischen Parlaments zum Jahresbericht der Zentralbank ist ein weiterer Eckpfeiler der Rechenschaftspflicht der EZB, der medial größere Aufmerksamkeit erfahren sollte.
Der hinter dem Konflikt stehende Streit zwischen BVerfG und EuGH ist ungleich schwieriger zu lösen. Kern der voneinander abweichenden Rechtsprechung ist die voneinander abweichende Geltungsbegründung des Unionsrechts. Der EuGH betont den autonomen Charakter des Unionsrechts und beansprucht dessen Vorrangigkeit vor jeder Norm des nationalen Rechts. Das BVerfG und andere nationale Verfassungs- und Höchstgerichte erkennen diesen unionsgerichtlich entwickelten, aber bislang primärrechtlich nicht kodifizierten, Anwendungsvorrang im Grundsatz an. Allerdings entstehe er nicht aus sich selbst heraus, sondern sei Folge der mitgliedstaatlichen Zustimmung zu den Gründungsverträgen der EU. Hieraus folgt für das deutsche Recht, dass der Grundsatz verfassungsrechtlich begrenzt ist, denn über bestimmte Teile der Verfassung kann auch der Bundestag nicht disponieren. Die Überwachung dieser sogenannten Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes in Art. 79 Abs. 3 GG bleibt Aufgabe des BVerfG, „bis an dem Tage, an dem eine [neue] Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“ (Art. 146 GG).
Wenn sich der EuGH in Zukunft in ähnlich konstruktiver Weise auf die Kritik mitgliedstaatlicher Gerichte einlässt wie es die EZB getan hat und auch in Kompetenzfragen ein Kontrollniveau etabliert, das der demokratischen und rechtstaatlichen Struktur der Europäischen Union gerecht wird, kann dies die Vorbehalte nationaler Gerichte minimieren und zu einer europäischen Rechtskultur beitragen, welche die EU langfristig stärken wird.