Auf Augenhöhe mit der Welt

Zur Kandidatur von Ursula von der Leyen

Als Ursula von der Leyen eine geopolitische EU-Kommission ankündigte, war nicht absehbar, wie tiefgreifend die Wendepunkte in ihrer Amtszeit werden würden. Das zunächst zögerliche Handeln während der Corona-Pandemie hat ihr in Deutschland Ärger eingebracht. In anderen Mitgliedstaaten steht sie wegen der pragmatischen Vorgehensweise bei der Vermittlung des besten Impfstoff-Angebots in der Kritik. Aber ohne ihr entschlossenes Zupacken trotz fehlender Zuständigkeit der EU im Bereich der Gesundheitsversorgung wären die Lieferketten höchstwahrscheinlich zusammengebrochen und der Schaden größer gewesen.

Ähnlich verhält es sich in der Außen- und Verteidigungspolitik. Auf beiden Politikfeldern tun sich die Mitgliedstaaten schwer, hinreichend Kompetenzen abzugeben. Zuständigkeitsfragen haben von der Leyen aber nicht von ihrem Kurs abbringen lassen. Nach Russlands Überfall auf die Ukraine übernahm sie die Initiative bei einer gemeinsamen europäischen Antwort. Von Sanktionspaketen über koordinierte Waffenlieferungen bis hin zum gemeinsamen Gaseinkauf hat sie Europas Handlungsfähigkeit gestärkt. Nur wenige Tage nach dem Terroranschlag der Hamas ist sie – zum Unmut des französischen Präsidenten Emmanuel Macron – gemeinsam mit Parlamentspräsidentin Roberta Metsola nach Israel gereist. Dort hat sie zu Israels Selbstverteidigungsrecht für die Europäer einen Pflock eingerammt, an dem später weder die Staats- und Regierungschefs noch ihr Außenbeauftragter rütteln konnten.

Die „deutsche“ Kommissionspräsidentin hat die Krisen geschickt genutzt, Europa ein Gesicht gegeben und Henry Kissinger endlich eine Antwort auf die ihm zugeschriebene Frage „Wen rufe ich an, wenn ich Europa sprechen will?“. Deshalb ist ihre Kandidatur für eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin eine gute Nachricht für Europa.

Nachbesserungen beim Green Deal nötig

Zur Methode von der Leyen gehört es, Dinge so miteinander zu verbinden, dass die Staats- und Regierungschefs den historischen Sprung zunächst gar nicht bemerken. Das war bei der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit über den Konditionalitätsmechanismus ebenso wie in ihrer Rede zur Verteidigungsfähigkeit Europas, als sie bei der Lockerung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes eine Konditionalität für gemeinsame Rüstungsprojekte vorgeschlagen hat.

Nachbesserungsbedarf gibt es bei ihrem geplanten Projekt, das in den vergangen fünf Jahren unter dem Stichwort „Green Deal“ verhandelt worden ist. Ohne Zweifel war es richtig, die Menschheitsaufgabe schlechthin anzugehen. Korrekturbedarf hat sie allerdings in manchen Bereichen selbst erkannt. Das lässt sie etwa an der Rücknahme der Pflanzenschutzverordnung oder der umfassenden Ausnahme zur Flächenstilllegung erkennen. Es wird aber bei den nach der Wahl im Juni zu erwartenden neuen Mehrheiten im Europäischen Parlament mehr Bewegung brauchen, um das Projekt zum Erfolg zu führen.

Unabhängig von den politischen Mehrheiten auch deshalb, weil das Vorhaben nur dann erfolgreich sein wird, wenn die Welt mitgenommen wird. Das wird nur gelingen, wenn der Weg nicht weiter über Bürokratie und Verbote verfolgt wird, sondern über regulatorische Anreize für Innovation und Technologie sowie marktwirtschaftliche Prinzipien.

Marktwirtschaft und Technologie statt Klima-Planwirtschaft und Verbote

Ihrer mehrfachen Ankündigung, den europäischen Kontinent wettbewerbsfähiger aufzustellen, muss endlich ein spürbarer Abbau von Bürokratie, eine fundamentale Beschleunigung von Genehmigungsverfahren und ein kalkulierbarer Regulierungsrahmen für die Industrie folgen, die vor allem energiepolitisch wieder eine Perspektive braucht.

Das wesentliche marktwirtschaftliche Instrument für die Transformation ist bereits gefunden: die Bepreisung von CO2. Und es wirkt. Große deutsche Unternehmen bringen CO2-freien Zement auf den Markt, andere nutzen die günstigen Bedingungen in Chile für klimaneutrale Kraftstoffe. In Toulouse fliegen die ersten Flugzeuge mit Wasserstoff. In naher Zukunft wird man Glasfassaden zur Energiegewinnung nutzen können. In Rostock und Darmstadt wird die Kernfusion erforscht.

Innovative Technologie ist am Anfang immer teuer. Aber dann wirken die Mechanismen der Marktwirtschaft und die Wettbewerbsfähigkeit von Inventionen steigt. Es wird nicht trivial sein, eine klimaneutrale Welt zu schaffen. Doch wir werden es schaffen, wenn wir CO2 mit einem Preisschild versehen. Daraus werden mehr Innovationen hervorgehen als aus jedem klima-planwirtschaftlichen Ansatz. Nicht gelingen wird es nach dem Motto: Wir haben eine Lösung für das Problem gefunden, aber das bedeutet für den Rest der Welt leider ewige Armut.

Reform der EU als Mammutaufgabe

Neben den weiteren Herausforderungen der Europäer im Bereich Sicherheit und Migration wird die neue Spitze der Kommission nach der Wahl auch grundlegende Reformen des europäischen Einigungswerkes vorantreiben müssen. Nicht nur, aber auch mit Blick auf künftige Erweiterungen. Die EU muss handlungsfähiger, fokussierter und demokratisch besser legitimiert werden. Das Europäische Parlament hat 245 konkrete Vorschläge unterbreitet und fordert die Einberufung eines Konvents zur Überarbeitung des Vertrags von Lissabon.

Ursula von der Leyen hat das Projekt von Anfang an mit einer vielleicht zur Wiederwahl erforderlichen Distanz, aber zugleich mit Wertschätzung begleitet. Auch für diese Mammutaufgabe braucht es Führung in Europa auf Augenhöhe mit der Welt.