Am 9. Mai 1950 verkündete der französische Außenminister Robert Schuman in Paris eine neue Vision für Europa. Deutschland und Frankreich sollten ihre Produktion von Kohle und Stahl einer gemeinsamen Behörde unterstellen. Es war kein Zufall, dass Schuman jene Industrien unter europäische Aufsicht und Verwaltung stellen wollte, die als Waffenschmieden der europäischen Nationen galten. Dabei war ihm bewusst, dass sich Europa „nicht mit einem Schlage“ herstellen lässt und „auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung“. Es werde „durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen“.
Angesichts der zahlreichen Krisen der europäischen Integration und weitverbreiteter Unzufriedenheit über das Agieren europäischer Institutionen bietet der 70. Jahrestag Anlass neu über die Schuman-Erklärung zu reflektieren. Im Kontext des Jahres 1950 waren die Bewahrung des Friedens und die Schaffung von Wohlstand zur Hebung des Lebensstandards die zentralen politischen Herausforderungen, vor denen deutsche wie französische Politiker standen. Schumans Vision von Europa war nicht von abstrakten Systemdebatten und Schlagworten überlagert, wie das zwischen „Bundesstaat“ und „Europa der Vaterländer“ heute so oft der Fall ist. Vielmehr definierte er die Kompetenzen der neuen Gemeinschaft entlang der konkreten Erfordernisse seiner Zeit.
Wie sehen diese Erfordernisse im Jahr 2020 aus? Heute müssen die Europäer um ihre künftige Rolle in der globalisierten Welt ringen. Die Europäische Union bildet zwar immer noch den größten Binnenmarkt, und sie hat politisches Gewicht. Unsere Werte Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind nach wie vor attraktiv, aber unser Modell steht längst nicht mehr unangefochten da. Aufstrebende neue Mächte reklamieren wirtschaftlichen und politischen Einfluss, und insbesondere China macht dem Westen in seinem Wohlstandsversprechen Konkurrenz. Gleichzeitig haben die komplexen Verhandlungsprozesse der Staatenföderation, die mangelnde Konzentration auf das Wesentliche, eine schwach ausgeprägte Rückbindung an den Wählerwillen und nicht zuletzt die schwere Veränderbarkeit von Unionsrecht bei vielen Bürgern den Eindruck von Europaversagen entstehen lassen. Dies hat die Legitimationsgrundlage der Europäischen Union unterminiert und zu einer existentiellen Bedrohung für das vereinte Europa geführt.
Anders als der Nationalstaat ist die EU in den Augen der meisten Zeitgenossen kein Selbstzweck. Sie steht zur Disposition, muss ihren Daseinszweck beweisen und sich immer wieder neu bewähren, um bestehen zu können. Sie wird nach Kosten und Nutzen bemessen. Die Abwägung darüber erfolgt nicht zwangsläufig rational (siehe Brexit), sie ist aber Realität. Deshalb geht es nicht um mehr oder weniger Europa und schon gar nicht um alte Ideen einer föderalen Ordnung. Es geht auch nicht um Europas verfassungsrechtliche Finalität, sondern um die Frage wozu die Europäer die Europäische Union im 21. Jahrhundert vor allem brauchen. Sie brauchen sie, um sich in einer Welt von unilateral agierenden Supermächten, mit denen kein europäischer Staat allein konkurrieren kann, im europäischen Verbund behaupten zu können. Verglichen mit der Zeit von Schuman geht es also heute um einen Paradigmenwechsel von der Binnenorientierung zur Weltorientierung (Kielmansegg). An die Stelle der „Schaffung einer immer engeren Union“ nach innen muss eine projektbezogen handelnde Union nach außen treten. Deshalb werben wir am Europatag 2020 dafür, dass wir uns auf die Kernbereiche des globalen Systemwettbewerbs konzentrieren, Kompetenzen klarer abgrenzen und die Europäer global handlungsfähig machen.
Abstrakt gesprochen liegen die Herausforderungen unserer Zeit in der (Welt-)Handels- und Investitionspolitik, der Digitalisierung, der inneren und äußeren Sicherheit, einer Energieunion, dem Umbau der sozialen Marktwirtschaft in eine nachhaltig ökologisch-soziale Marktwirtschaft, der Migration innerhalb der Union und von außen sowie einer Strategie für Afrika. In diesen näher zu definierenden Bereichen ist ein gemeinsames europäisches Vorgehen unbestreitbar sinnvoll und der Mehrwert kann ganz im Sinne Schumans konkret sichtbar werden. Damit die „Solidarität der Tat“ aber auch tatsächlich entstehen kann, muss sich die Europäische Union auf diese Bereiche konzentrieren und befähigt werden, Probleme zu lösen. Dazu muss das institutionelle Gefüge reformiert werden.
Dies bedeutet, der Europäische Kommission in bestimmten Bereichen eine effektivere Struktur zu geben, die von einer stabilen Mehrheit im Europäischen Parlament getragen und von einer sichtbaren Opposition begleitet wird. Das Parlament muss sich viel stärker auf jene Aufgaben fokussieren, in denen es Gesetzgebungskompetenz und Kontrollfunktion hat, um ernst genommen zu werden. Es muss erwachsen werden in seiner Funktionsweise und eine Debattenkultur entwickeln, die eines Parlaments würdig ist. Ohne den ernsthaften und vertieften Austausch von Argumenten im Plenum wird dies nicht gelingen. Solange das Europäische Parlament nicht die Plattform für den Ideenaustausch in einer europäischen Öffentlichkeit wird, solange die Redner nicht im Zentrum des Geschehens stehen, sondern vom Platz aus sprechen, solange sie sich nicht gegenseitig ansehen und aufeinander beziehen, wird es zur Akzeptanz auf europäischer Ebene getroffener Entscheidungen keinen ausreichenden Beitrag leisten.
Zur Verwirklichung dieser Vision von einem in Handlungsfähigkeit geeinten Europa brauchen wir einen neuen Aufbruch, einen Impuls wie er vor 70 Jahren von der Schuman-Erklärung ausging. Die vor der Krise angedachte Konferenz zur Zukunft Europas kann hierfür eine Möglichkeit bieten. Robert Schuman zeigte vor 70 Jahren entschlossenen Mut als er über den Ruinen europäischer Städte dem einstigen Kriegsgegner und Erbfeind Deutschland die Hand der Versöhnung reichte. Die Krisen der Gegenwart rufen uns dazu auf, heute mit der gleichen Weitsicht ein neues Kapitel in der Geschichte des vereinten Europas aufzuschlagen. Anders als die Vereinigten Staaten von Amerika will die Europäische Union aber nicht aus vielen eines machen – e pluribus unum –, sondern „In Vielfalt geeint“ sein. Wenn wir die aus der Vielfalt entspringenden Vorteile erkennen, sie auf supranationaler Ebene bündeln und Skaleneffekte nutzen, haben wir alle Chancen, dass das derzeit in mehrfacher Hinsicht ins Hintertreffen geratende Europa auch in Zukunft der lebenswerteste Kontinent sein wird.